Konstruktive Disruption durch radikale Offenheit
Universität der Künste Berlin
Weitere Interviews
18. Dezember 2018
1. Herr Hübl, Sie sagen Offenheit ist die Tugend der digitalen Epoche. Woraus schliessen Sie das?
Die Analogie zum unternehmerischen Umfeld liegt auf der Hand: Je schneller die Umbrüche in der Gesellschaft, desto zentraler wird Offenheit als Handlungsmaxime. — Betrachten wir die Technik. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich das Leben im Kern wenig verändert. Die heute über 40-jährigen sind in einer analogen Zeit aufgewachsen, in der eine inkrementelle Logik vorherrschte: die Idee, dass man Produkte und Firmen schrittweise verbessert. Die Autos wurden schneller, sicherer und komfortabler und die Produkte im Supermarkt vielfältiger. Der Prototyp dieser inkrementellen Logik ist die deutsche Ingenieurskunst, deren Grundidee lautet: Verfeinerung und Optimierung.
Seit einigen Jahren jedoch folgen Technologien einer disruptiven Logik. Im Banking beispielsweise revolutioniert FinTech gerade die Branche, besonders sichtbar beim mobilen Zahlen. Bankautomaten und EC-Karten werden uns bald so altertümlich vorkommen wie heute Faxgeräte.
2. Was bedeutet Disruption?
Dazu muss man sich die Umbrüche genauer ansehen. „Disprution“ heißt nicht, dass jetzt alles anders wird, also zum Beispiel bald weder Autos noch Verlage existieren. Die digitalen Umbrüche betreffen vielmehr eine Entkopplung von Träger und Funktion. Die Funktion bleibt, aber die Träger wechseln. Zeitungsverlage vertreiben keine gedruckten Zeitungen mehr, sondern haben sich abstrakt neu definiert: als digitale Nachrichtenunternehmen. Autobauer verkaufen bald nicht mehr Autos an Privatpersonen, sondern Mobilitätskonzepte für Städte oder ganze Länder. — Die Bedürfnisse bleiben konstant, jedoch die Umsetzung ändert sich radikal.
3. Was heisst das für Manager, konkret für Finanzchefs?
Heute muss der Blick zuerst auf die Zukunft gerichtet sein. Weniger Tradition ist gefragt, dafür mehr Antizipation. Die neue Rolle lautet: weniger verwalten, mehr entscheiden. Weniger Traditionalist sein, dafür agiler und offener handeln.
Das zeigt auch eine Studie des World Economic Forums, die gefragt hat, mit welchen Fähigkeiten man die „Vierte Industrielle Revolution“ meistern kann. Besonders Kreativität und kritisches Denken werden in Zukunft in den Vordergrund rücken. Beide Fähigkeiten sind dezidiert nicht-traditionalistisch und mit einem hohen Maß an Offenheit korreliert.
In Europa könnten Unternehmen noch deutlich offener, kreativer und mutiger werden. Es gibt bisher zu wenige große disruptive Geschäftsideen, von Leuten, die so progressiv denken wie die Gründer der GAFA-Unternehmen. Diese Nachfolger der Hippies aus Kalifornien haben Offenheit zu ihrem Lebensstil erkoren.
Offenheit als Handlungsmaxime bedeutet mehr Verantwortung für das Management, aber auch mehr Gestaltungsmöglichkeiten für Einzelpersonen.