Grusswort | Die sichtbare Hand der Geopolitik
„Geopolitik“ war in der Finanzwelt in der Vergangenheit höchstens ein exotisches Fremdwort. „Politisch“, damals noch ohne „geo“, wurde es zunächst in Folge der Finanzkrise 2008 und den daraus resultierenden staatlichen regulatorischen Eingriffen in den Finanzmarkt, die zumindest teilweise an den Grundpfeilern des bis dato geltenden Finanzsystems rüttelten. Wir erinnern uns an die regulatorischen Eingriffe des Dodd-Frank Act (2010), zahlreiche regulatorische Einzelmaßnahmen der EU, später in Teilen zusammengefasst in der Bankenunion (EBU), und das Basel III-Regime. Kern dieser Reformen war zum einen die Stärkung der Resilienz des Finanzsystems, z.B. durch höhere Eigenkapitalquoten und stärkere Aufsicht. Zum anderen eine neue und radikalere Idee: makroprudenzielle Überwachung. Kern des Ansatzes ist die Annahme, dass übergeordnete staatliche Institutionen Ungleichgewichte in Finanzmärkten schneller erkennen als der Markt selbst und gegensteuernd eingreifen. In Kürze: ein Primat der Politik über den Finanzmarkt.
Doch wann wird aus Politik Geopolitik? – Die Finanzmarktkrise von 2008 war ein deutliches Symptom eines empirischen Trends der letzten Jahrzehnte. Weltweit nehmen sowohl Frequenz als auch Intensität von Krisen zu. Ursachen und Art der Krise sind verschieden, über Pandemien, extreme klimatische Veränderungen und kriegerischen Auseinandersetzungen ist nahezu alles dabei. Dennoch lässt sich ein wesentlicher Nenner für die überwiegende Zahl an Krisen ausmachen: geopolitische Faktoren. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren weiter verschärfen – Geopolitik in einer globalen Umbruchsphase und die Neuordnung der internationalen Beziehungen wird das prägende Element des nächstens Jahrzehnts.
Wir erleben momentan eine fundamentale strategische Auseinandersetzung westlich geprägter Demokratien mit autokratischen Staaten. Insbesondere vertreten durch China und Russland. Diese Auseinandersetzung ist systemisch und es treffen im Kern unterschiedliche Wertesysteme aufeinander, die selbst eine gemeinsame Übereinkunft über basale Fakten oder die Definition von Wahrheit nicht zulassen. Die Stabilität der Sicherheitsarchitektur seit 1990 hat sich erheblich verändert und einen beispiellosen Wandel – Zeitenwende – in Europa eingeläutet. China und Russland zielen darauf ab, die regelbasierte Ordnung zu schwächen und die USA von ihrer derzeitigen Vormachtstellung zu verdrängen. Investoren und Unternehmen müssen sich darüber im Klaren sein, dass es keine Rückkehr zum – vor dem Krieg vorherrschenden – „Normalzustand“ geben wird. Im Gegenteil, der grundlegende Konflikt wird aller Voraussicht nach lange andauern und tiefgreifende Auswirkungen auf die Weltwirtschaft und die Märkte haben.
Die Folgen dieser strategischen Auseinandersetzung machen sich in vielen Bereichen bemerkbar: Globale Wiederaufrüstung, engere Allianzen unter bereits verbündeten Staaten, wirtschaftlicher Protektionismus, deutlich steigende Zahl an Sanktionen, ein Wettlauf um die Vorherrschaft in relevanten Technologiebereichen und kriegerische Konflikte. Auch der russische Überfall auf die Ukraine ist in diesem Konflikt eher logische Folge als Ursache und markiert vor aller Augen sichtbar den Beginn eines globalen Neuordnungsprozesses. Dabei verschwimmt die Trennlinie zwischen Krieg und Frieden zunehmend und anstelle dessen treten Graustufen der hybriden Kriegsführung, die von wirtschaftlichen Druckmitteln, wie Exportkontrollen bis hin zu Cyberattacken reichen. In Demokratien ist dabei kritische Infrastruktur oftmals in unternehmerischen Händen, die damit ein Hauptziel staatlicher Cyberangriffe werden. Eine weitere Komponente, die sich weiterhin verstärken wird, ist der Kampf um Ressourcen. Dazu gehören neben kritischen Rohstoffen und Energie vor allem sowohl Zugang als auch Nutzung von Wasser.
Doch warum ist Geopolitik für die Finanzwirtschaft relevant und wo liegen die Schnittstellen zwischen den beiden Welten? – Die Auswirkungen der zuvor skizzierten Entwicklungen auf die Finanzwirtschaft sind einschneidend und facettenreich. Zum einen müssen Investments in Unternehmen eine „geopolitische Checkliste“ abhaken, die sicherstellt das Investments in Unternehmen fließen, die sowohl in ihrer Produktionsarchitektur als auch in der Beschaffung und im Absatz in Grundzügen resilient aufgestellt sind. Zum anderen bieten sich neue Chancen und Risiken in strategischen Bereichen wie Energie und Ressourcen, die stark durch geopolitische Entwicklungen geprägt sind. Dabei sind insbesondere neue Märkte interessant, die nicht ausreichend erschlossen sind, z.B. in Südamerika und Südostasien, und strategische Industriebereiche, die im europäischen Raum gestärkt werden, sowie Investitionen in kritische Ressourcen und Rohstoffe. Letzte stellen gleichzeitig eines der größten Risiken für die heimische Industrie dar. Dazu gehört beispielweise Lithium, der in modernen Akkus verbaute Stoff, ohne die die weltweit ersehnte Energiewende undenkbar erscheint.
Die in verschiedensten Industriezweigen benötigten kritischen Rohstoffe (Nickel, Kobalt, Zinn, Niob, Tantal, Graphit, Lithium, Seltene Erden, Vanadium, Kupfer und Phosphat) werden zu großen Teilen in afrikanischen und lateinamerikanischen Ländern gefördert. Die Volksrepublik China hat dies erkannt und sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten den Zugang zu Rohstoffen auf dem afrikanischen und südamerikanischen Kontinent strategisch gesichert und ihren wirtschaftlichen Einfluss massiv ausgebaut. Die EU setzt große politische Pakete wie das Rohstoffgesetz um und drängt auf Souveränität, Innovation und Nachhaltigkeitsprojekte. Allerdings ist sie immer noch mit hohen Abhängigkeiten konfrontiert. So erfolgt die sekundäre Produktion bzw. die Veredelung von diversen kritischen Rohstoffen in China (60 Prozent Marktanteil bei der weltweiten Kobaltveredelung), was extreme Asymmetrien zur Folge hat. Die Abhängigkeit Europas von in China abgebauten bzw. verarbeiteten Rohstoffen ist größer, als es die Abhängigkeit von russischem Gas je war.
Gesteigert wird der Kampf um Ressourcen auch durch den spürbaren Mangel an eben jenen, wie beispielsweise Wasser und Nahrungsmittel. Durch den Angriffskrieg in der Ukraine und die dadurch hervorgerufenen weltweiten Getreide-Engpässe ist die Bedeutung von Nahrungsmittelsicherheit als geopolitischer Faktor in vermeintlich am Krieg unbeteiligten Drittländern offensichtlich geworden.
So hat unter anderem die Knappheit von Getreide und die dadurch gestiegene Lebensmittel-Inflation in Tunesien beinahe zum Staatsbankrott geführt, der nur durch ein weiteres Darlehen des Internationalen Währungsfonds abgewendet werden konnte. Gleichzeitig hat die Verknappung von Getreide die geostrategische Bedeutung Süd-amerikas drastisch verstärkt. Der südamerikanische Agrarsektor spielt eine zentrale Rolle für die globale Versorgung mit Lebensmitteln. Brasilien und dessen Nachbarländer sind gut aufgestellt, um die wachsende Nachfrage nach Mais (aktuell 30 Prozent der Weltproduktion), Rindfleisch, Geflügel, Zucker, Sojabohnen (derzeit 60 Prozent der Weltproduktion) und Kaffee zu bedienen. Prognosen gehen davon aus, dass die Lebensmittelexporte der Region in den nächsten zehn Jahren um 17 Prozent auf 100 Milliarden US-Dollar ansteigen. Der Mangel an Nahrungsmitteln und Wasser wird in Zukunft erheblichen Einfluss auf politische Entscheidungen, wie zum Beispiel das Weizen-Exportverbot Indiens, und vor allem auch Migration haben.
Im Kampf um Ressourcen wie kritische Rohstoffe, Wasser und Nahrungsmittel signalisiert zeitgleich die wachsende Weltbevölkerung zunehmendes Konfliktpotenzial. Zu Ressourcen gehören im weiteren Sinne auch Arbeitskräfte. Die Rolle der Demographie als geopolitischer Treiber wird daher immer wichtiger. Industrienationen weltweit kämpfen mit sinkenden Bevölkerungszahlen und alternden Gesellschaften. Gleichzeitig nehmen die Flüchtlingsströme zu, und Afrika wird bis 2030 voraussichtlich der einzige Kontinent mit einer Fruchtbarkeitsrate von über 2,1 sein, was auf ein Bevölkerungswachstum aus eigener Kraft hindeutet. Demografische Veränderungen und Geopolitik sind eng miteinander verknüpft. So beeinflusst die Altersstruktur die militärische und wirtschaftliche Macht eines Staates, während zugleich geopolitische Veränderungen die Demografie durch Faktoren wie krisenbedingte Flüchtlingsströme beeinflussen.
Auch Handelsrouten sind ein bedeutsamer Aspekt, der Wirtschaft und Geopolitik wechselseitig beeinflusst. Eine Seeblockade in der Taiwan-Straße in Folge einer Eskalation zwischen China und Taiwan beispielsweise hätte massive Auswirkungen auf die Weltwirtschaft. Alle genannten geopolitischen Treiber und Entwicklungen sind ausschlaggebend für den wirtschaftlichen Erfolg eines Unternehmens. Geopolitische Verschiebungen bergen in hohem Maße wirtschaftliche Chancen und Risiken. Ein plötzlicher Politikwechsel in einem Drittstaat, ein sich anbahnender Konflikt in einer für einen bestimmten Rohstoff wichtigen Region oder eine Neuordnung der politischen Allianzen – all dies kann entscheidend sein für das Gelingen oder den Weiterbestand eines wirtschaftlichen Vorhabens. Ein umfassendes und weitreichendes Verständnis von Geopolitik ist für Unternehmen und Investoren, die sich in der sich verändernden Geschäfts- und Investitionslandschaft zurechtfinden müssen, somit unerlässlich. Geopolitik ist zu einer zentralen Facette wirtschaftlichen Handelns geworden. Rohstoffe werden dabei zum machtpolitischen Druckmittel, und Absatzmärkte verändern sich erheblich. Sanktionen, insbesondere Sekundärsanktionen, spielen eine größere Rolle.
Fazit – Die Welt gehört den Mutigen. Die geopolitische Situation Deutschlands und der EU aber auch die Ihrer Partner hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert. Dies beeinflusst unternehmerisches Handeln und Investitionsentscheidungen über alle Geschäftsfelder hinweg. Die Auswirkungen geopolitischer Ereignisse auf Märkte sind ausgeprägter denn je. Faktoren wie regionale Konflikte, Handelskriege, Sanktionen, demografische Veränderungen und Umweltprobleme beeinflussen die Performance einzelner Unternehmen erheblich. Um erfolgreich zu investieren, müssen Projekte in ihrer geopolitischen Dimension durchdacht werden. Unternehmen und Investoren müssen sich weiterhin auf ein durch hohe Volatilität gekennzeichnetes und sich schnell veränderndes Geschäftsumfeld und verstärkte Risiken einstellen. Zugleich bietet eine fundierte Kenntnis der geopolitischen Dynamiken und eine Flexibilität sich eben jener anzupassen, große Chancen für erfolgreiche Investments. Geschäftsführer, Aufsichtsräte und Investoren müssen die Auswirkungen der sich verändernden geopolitischen Landschaft auf ihr Geschäft oder Portfolio frühzeitig erkennen und einpreisen.
Dr. Timo Blenk