Vorwort | Nach der großen Inflation – Neues Regime an den Kapitalmärkten
Nach der beispiellosen geldpolitischen Straffung der Jahre 2022 und 2023 sind sowohl die Fed als auch die EZB inzwischen wieder auf Zinssenkungskurs. Obwohl die Inflationsraten noch über dem Zielwert von 2% liegen, herrscht berechtigte Zuversicht, dass der Kampf gegen die Inflation vorerst gewonnen wurde. Die positiven Reaktionen der Kapitalmarktakteure auf die Zinssenkungen lässt allerdings vermuten, dass auch generell mit einer Wiederkehr des Kapitalmarkt-umfelds aus der Zeit vor der Corona-Pandemie und vor dem Inflationsanstieg gerechnet wird. Dies dürfte sich als Illusion herausstellen.
Kurzfristig besteht die Illusion im unbedingten Glauben an das „Soft-landing“ oder sogar „No landing“-Szenario, also an eine weiter dynamisch wachsende US-Wirtschaft und entsprechend steigende Unternehmensgewinne. Dass der Fed noch nie in ihrer Geschichte der Spagat zwischen Inflationsbekämpfung einerseits und Verhinderung einer Rezession andererseits gelungen ist, wird ausgeblendet. Was genau die Argumente für die Zuversicht sind, dass diesmal „alles anders“ ist, bleibt unklar, soll an dieser Stelle aber nicht ausführlich diskutiert werden. Eine Schlüsselstellung dürfte allerdings der unterstellten Herangehensweise der Notenbanken zukommen, und dieser Punkt ist auch in längerfristiger Betrachtung von Interesse.
Wir erinnern uns
Das Kapitalmarktumfeld der zurückliegenden 15 Jahre (bis einschließlich 2020) war davon geprägt, dass die Notenbanken bereit waren, externe Schocks mit der Bereitstellung praktisch unbegrenzter Liquidität zu bekämpfen, sei es durch Zinssenkungen bis hinein in den negativen Bereich oder sei es durch eine enorme Aufblähung ihrer Bilanzen durch den Ankauf von Wertpapieren. Der willkommene Nebeneffekt: Die Liquiditätsflut wirkte sich positiv auf die Kapitalmärkte aus und schwächte in erheblichem Maße den Zusammenhang zwischen der ökonomischen Lage und der Performance der einzelnen Anlageklassen. Eine wesentliche Bedingung für das Agieren der Notenbanken war allerdings die Abwesenheit inflationärer Gefahren – die Notenbanken konnten sich auf die Bekämpfung aller möglichen Krisen konzentrieren, ohne eine steigende Inflation befürchten zu müssen.
Genau dies änderte sich nach der Corona-Pandemie grundlegend, als die fortgesetzte Liquiditätszufuhr eine anhaltend hohe gesamtwirtschaftliche Nachfrage sicherte, obwohl es gleichzeitig erhebliche Angebotsengpässe gab. Dies war der eigentliche Grund für den Inflationsanstieg, der durch drastisch steigende Energiepreise infolge des russischen Überfalls auf die Ukraine zusätzlich befeuert wurde.
Blicken wir nun in die Zukunft
Es gibt mindestens drei Gründe für eine strukturell erhöhte Inflation in den kommenden Jahren: Erstens ist hier die geopolitisch veränderte Lage und insbesondere die systemische Rivalität zwischen den USA und China zu nennen. Selbst wenn es nicht zur Herausbildung zweier konkurrierender Blöcke und der damit verbundenen Abschottung voneinander kommen sollte, dürfte der globale Handel der Zukunft stärker von politischen Machtkämpfen und nicht in erster Linie von den ökonomischen Vorteilen der globalen Arbeitsteilung bestimmt werden. Die von der Globalisierung ausgehenden disziplinierenden Effekte auf die Löhne in den Industrieländern werden damit geringer, zumal China seinen Status als Billiglohnland abgelegt hat und es dem politischen Willen der dortigen Führung entspricht, die globalen Märkte nicht dank günstigerer Produktionskosten, sondern infolge eigener technologischer Überlegenheit zu beliefern. Hinzu kommt, dass Unternehmen und Staaten versuchen werden, ihre Verletzlichkeit infolge exogener Schocks zu verringern. Resilienz wird also wichtiger als die jeweils kostengünstigste Lösung.
Zweitens begünstigt die demographische Entwicklung strukturell höhere Inflationsraten. Charles Goodhart hat bereits vor Jahren die herrschende Meinung, nach der der demographische Wandel infolge seiner das Potenzialwachstum dämpfenden Wirkung deflatorische Wirkungen habe, herausgefordert. Der entscheidende Punkt besteht darin, dass aus der demographischen Entwicklung ein dramatischer Mangel an Arbeitskräften resultiert, der das laufende Jahrzehnt massiv prägen wird. Die ökonomisch erwartbare Folge sind stärkere Lohnsteigerungen und damit höhere Kosten für die Erstellung von Gütern und Dienstleistungen. Migration könnte diese Wirkung zwar dämpfen, allerdings dürfte das Potenzial an fachlich geeigneten Eiwanderern angesichts ähnlicher Entwicklungen in vielen Schwellenländern viel zu gering sein, um einen Anstieg der Lohnkosten zu verhindern.
Drittens erfordert die ökologische Transformation der Volkswirtschaften insbesondere mit Blick auf den Klimaschutz in den kommenden Jahrzehnten enorme Investitionen. Weil dabei im Wesentlichen der bestehende Kapitalstock zur Energieerzeugung ersetzt wird, ohne dass dies unmittelbar outputsteigernd wirkt, können die Investitionen nur durch höhere Preise finanziert werden.
Diesen drei inflationssteigernden Faktoren steht ein potenziell gewichtiges Argument entgegen: Produktivitätssteigerungen, die von der Digitalisierung und insbesondere aus der rasanten Entwicklung der KI erwartet werden, könnten die Inflation deutlich dämpfen. Im Grundsatz erscheint dies durchaus denkbar, jedoch gilt auch hier die alte Weisheit, nach der die Produktivitätsgewinne neuer Technologien langfristig unterschätzt, kurzfristig aber meistens deutlich überschätzt werden. Weil die produktivitätssteigernde Wirkung von KI entscheidend von der Umstellung ganzer Geschäftsmodelle abhängt, ist die Annahme, dass dies eine gewisse Zeit benötigen wird, plausibel.
Für die Geldpolitik der Notenbanken folgt daraus ein Dilemma. Einerseits wird Inflation für ihr Handeln eine wesentlich größere Rolle spielen als in den ersten beiden Jahrzehnten dieses Jahrhunderts. Das allgemeine Zinsniveau wird deshalb nicht wieder auf null sinken, sondern dauerhaft erhöht bleiben, und Phasen steigender Zinsen zur Eindämmung einer zu hohen Inflation werden wieder zur Normalität der Geldpolitik gehören.
Andererseits sind die Notenbanken jedoch mit einer andauernd hohen staat-lichen Verschuldung konfrontiert, die an den Kapitalmärkten in zunehmendem Maße als nicht mehr tragfähig wahrgenommen wird. Die Folge könnten enorme Instabilitäten an den Finanzmärkten sein, vor allem dann, wenn auch die USA als Anker des globalen Finanzsystems davon betroffen sein sollten. Angesichts eines latenten Bedeutungsverlusts der USA und innenpolitischer Tendenzen zur Abschottung ist dies ein durchaus plausibles Szenario. Die Notenbanken könnten der Gefahr systemischer Instabilität durch eine Deckelung des Zinsniveaus entgegentreten, was allerdings Risiken mit Blick auf die Inflationsbekämpfung birgt.
Für die Akteure an den Kapitalmärkten bedeutet dies: Die Rückführung der Inflation auf ein Niveau von etwa 2% bedeutet keineswegs eine Rückkehr des zuvor bestehenden Umfelds. Vielmehr treten wir in ein neues Regime ein: Die Geldpolitik wird stärker zwischen gegenläufigen Polen schwanken und daher größeren „Unberechenbarkeiten“ unterliegen, die ökonomischen Zyklen werden ausgeprägter und möglicherweise auch kürzer ausfallen, und die Entwicklung einzelner Anlageklassen wird nicht klaren Trends für längere Zeit folgen, sondern eine ausgeprägtere Volatilität aufweisen. Das Zinsniveau dürfte deutlich positiv, insgesamt aber nach oben begrenzt bleiben.
Die Gewinner der kommenden Jahre werden jene Akteure sein, die sich darauf am besten einzustellen verstehen.
Axel D. Angermann